Der Kampf um das koloniale Erbe wird härter. Nachdem die koloniale Amnesie in den letzten Jahren in Teilen aufgebrochen wurde, formiert sich seit einiger Zeit auch der Widerstand gegen eine allzu kritische Auseinandersetzung mit dem deutschen Kolonialismus. Das ist nicht verwunderlich, denn der Streit um Dekolonisierung ist immer auch ein Kampf um (nationale) Identität. Die Versuche der Revision belegen im Grunde die Erfolge der kritischen Aufarbeitung in den letzten Jahren.

Überraschend und enttäuschend ist jedoch, dass sich Kolonialnostalgie ausgerechnet in der Zeitschrift des altehrwürdigen Vereins für Hamburgische Geschichte zeigt. Dass man dort eine Bühne bereitet für den Missbrauch des wissenschaftlichen Instruments der Rezension für (erinnerungs-)politische Angriffe, die in ihrer Offensichtlichkeit selbst den Teilnehmer:innen eines universitären Proseminars hätten auffallen müssen, verwundert. Sicherlich, Autor:innen gefällt nicht immer, was Rezensent:innen schreiben. Aber Angriffe, die ausgewiesene Wissenschaftler:innen pauschal der Unwissenschaftlichkeit zeihen, werfen die Frage auf, wer eigentlich das wissenschaftliche Handwerk nicht beherrscht.

So sicher scheint jedenfalls der Rezensent nicht zu sein in der Kenntnis des historischen Propädeutikums, wenn er einen von 30 Wissenschaftler:innen verfassten Sammelband als Monografie bezeichnet. Eine Monografie ist das Werk eines oder mehrerer Autor:innen, und eben nicht ein Sammelband mit mehr als zwei Dutzend Aufsätzen unabhängiger Autor:innen. Diese Verwechslung erklärt vielleicht den Satz „Viele der Aufsätze folgen dabei dem Ziel einer Loslösung von eurozentrischen Sichtweisen (…) dies allerdings recht fraglos und vielleicht nur deshalb, weil Herausgeber Zimmerer einen solchen Ansatz als ‚fruchtbar‘ vorgibt“, wonach also alle Aufsätze lediglich politische Vorgaben des Herausgebers erfüllen. Diese Meinung kann nur hegen, wer nie einen wissenschaftlichen Sammelband herausgab. Zudem scheint dem Rezensenten entgangen zu sein, dass die Ablösung standpunktabhängiger Perspektiven zum Kerngeschäft der Wissenschaft gehört, und dazu umfasst auch eurozentrische Perspektiven.

Die Redaktion hätte auch bemerken können, dass Jakob Anderhandt nur fünf Aufsätze bespricht, drei davon pauschal verreißend, nur zwei davon lobend. Wusste niemand in der Redaktion, dass der Band knapp 600 Seiten umfasst, und 35 Aufsätze und Themen? Oder blendete der Umstand, dass unter den zwei gelobten Beiträgen – „Beiträge dieser Art verdankt ‚Hamburg. Tor zur kolonialen Welt‘ seine bleibenden Verdienste“, sie seien „Lichtblicke im Sinne einer seriösen Aufarbeitung von Hamburgs kolonialem Erbe“ – ausgerechnet der des Herausgebers der ZHG und Vorsitzenden des VHG ist?

Ebenfalls auffallen hätte müssen, dass der Rezensent nicht den Band als solchen bespricht und argumentativ kritisiert, sondern vielmehr bemängelt, dass der Band nicht so ist, wie er ihn geschrieben hätte. Nur zu, will man ihm zurufen, wer hindert(e) Dich, ein derartiges Buch zu machen?

Aber welches Buch hätte es denn sein müssen, seiner Meinung nach? Hier liegt der revisionistische Kern hinter all den Plattitüden der Rezension. Dem Rezensenten missfällt, dass Autor:innen zu pauschal „ein unwillkommenes Machtgefälle zwischen dem ‚globalen Norden‘ und dem ‚globalen Süden‘“ konstatieren würden, „dem gegenüber die positiven Folgen kolonialer Herrschaft für die Kolonisierten ausgeblendet bleiben“. Er wollte die guten Seiten des Kolonialismus erwähnt und bewertet wissen! Welche er genau meint, sagt er nicht, den Genozid an den Herero und Nama vielleicht, den ersten deutschen „Rassenstaat“, die Exzesse mit der Nilpferdpeitsche,  die sexuelle Gewalt, die Ausstellung als „primitiv“ inszenierter Menschen, der Raub ihrer Kultur, kurz das strukturell rassistische Unrechtssystem, das Kolonialismus war? Wir wissen es nicht.

Auffallen hätte  jeder:m, die:der auch nur mit den Grundlagen der deutschen Geschichte vertraut ist, auch dieser Satz müssen: „Noch verkehrter ist es, Otto von Bismarck zum Initiator und Gründer des deutschen Kolonialreichs zu machen, um Hamburger Denkmäler für den Reichskanzler zu kolonialen Erinnerungsorten umzuwerten.“ Ja wer denn sonst? Wer war denn Reichskanzler zu dieser Zeit, wer lud denn ein zur Afrikakonferenz 1884/85, auf der die europäische Aufteilung Afrikas formalisiert wurde? Man mag über Bismarcks Motive streiten, aber darüber, dass er das letzte Wort hatte, auf dem Weg zum deutschen Kolonialreich, der auch der Weg zum ersten Völkermord des 20. Jahrhunderts war, darüber kann es doch keinen Streit geben. Schließlich schreibt man ihm auch die Reichseinigung von 1871 oder die Sozialgesetzgebung zu.

Geradezu grotesk ist der Hinweis die Handelskammer Hamburg sei ein Ort des „Widerstands gegen die deutsche koloniale Expansion“ gewesen, bedenkt man, dass von dieser Handelskammer am 6.7.1883 das Schreiben ausging, dass Bismarck zur Errichtung eines Deutschen Kolonialreichs aufforderte, die dann im Jahr darauf erfolgte. Will hier jemand am Vorabend des 140. Jahrestages dieser Hamburger Initiative schon prophylaktisch die Geschichte umschreiben? Und wozu?

Es sind die geschichts- und erinnerungspolitischen Fragen, welche dieser Rezension ein Gewicht verleihen, die ihr ihrem Inhalt nach sicherlich nicht zukommt. Macht sich die VHG hier zum Sprachrohr der Kolonialnostalgiker, oder ließ sich dazu zumindest instrumentalisieren? Hamburg ist bundesweit Vorreiter der kolonialen Aufarbeitung und der dazu dringend benötigten Grundlagenforschung, bemüht sich nach intensiven zivilgesellschaftlichen Debatten seit 2014 aktiv um Forschung und Erinnerung. Deshalb ist der Ort dieser Rezension relevant! Soll hier umgebogen werden, was vielen in der Stadt nicht passt, weil sie selbst in der Tradition der Profiteure des Kolonialismus stehen, oder aus identitätspolitischen Gründen an Statuen wie dem Bismarck-Denkmal im Alten Elbpark festhalten wollen? Und das ausgerechnet in den Seiten des Vereins, der sich Hamburgs Geschichte auf die Fahnen schrieb.

Sollte man derartige inhaltliche Debatten nicht offen führen, und nicht im Rezensionsteil? Und sollte man dazu nicht selbst wissenschaftlichen Standards folgen, zu denen auch gehört, Zitate, die nie so getätigt wurden, einem Autor nicht in den Mund zu legen? Für eine detaillierte Berichtigung der Falschaussagen verweise ich auf die Gegendarstellung von Kim Todzi vom 9.12.2022. Hier sollte es um die grundsätzlichen Fragen gehen, mit offenem Visier. In der Wissenschaft kann man über alles diskutieren, aber bitte redlich, nicht Rezensionen für revisionistische Grabenkämpfe missbrauchend.

Jürgen Zimmerer, 9.12.2022